Oxygen - Chemie im Theater

Von Richard N. Zare,
Stanford University

In diesem Jahr jährt sich die erste Vergabe des Nobel-Preises durch die Nobel-Stiftung zum 100. Mal. Man stelle sich vor, die Stiftung beschließe anlässlich dieses Ereignisses, rückwirkend einen Nobelpreis für die großen Entdeckungen in der Chemie Oxygen - A Play in Two Acts (Djerassi, Hofmann)zu vergeben, die vor der ersten Preisvergabe gemacht wurden. Die Aufgabe, diesen Preis zu vergeben, ist der Hintergrund des Stückes "Oxygen", das am 2. April 2001 im San Diego Repertory Theater anlässlich der Eröffnung der Frühjahrstagung der American Chemical Society zu deren 125. Geburtstag seine Uraufführung hatte, sodass das Publikum zum großen Teil aus deren Mitgliedern bestand. "Oxygen" wurde von zwei weltberühmten Chemikern geschrieben: Carl Djerassi von der Stanford University und Roald Hoffmann von der Cornell University. Beide haben sich zunehmend der Literatur gewidmet, nachdem sie fast jede mögliche Anerkennung für ihre wissenschaftlichen Arbeiten erhalten haben. Das Stück handelt von der Vergabe eines Nobelpreises für Chemie für die Zeit vor 1901.

Natürlich bestehen viele Möglichkeiten für diese Ehrung. Als erstes fällt mir Amadeo Avogadro (1776–1856) ein, der 1811 die Hypothese aufstellte, in gleichen Volumina von Gasen seien bei gleichem Druck und gleicher Temperatur gleiche Zahlen von Atomen oder Molekülen enthalten. In der Tat prägte Avogadro den Begriff "Molekül" und begründete das Konzept, dass Substanzen mehratomig sein könnnen. Ein weiterer würdiger Kandidat wäre Jöns Jacob Berzelius (1779–1848), bekannt für seine Bestimmungen von Atommassen, die Entwicklung der modernen Symbole in der Chemie, seine Theorie der Elektrochemie, die Isolierung mehrerer Elemente, die Entwicklung klassischer analytischer Methoden und seine Untersuchungen zur Isomerie und Katalyse (beide Begriffe stammen von ihm). Aber damit kann man kein Theaterstück schreiben! Das Nobel-Komitee hat es sich stattdessen zur Aufgabe gemacht, den Preis für die Entdeckung des Sauerstoffs zu vergeben, und dafür gibt es drei Kandidaten. Der erste ist Carl Wilhelm Scheele (1742–1786), schwedischer Apotheker, der als erster die "Feuerluft" entdeckte, dies aber bis 1777 nicht veröffentlichte. Der zweite ist der unitarische Geistliche Joseph Priestley (1733–1804) aus England, der den Sauerstoff entdeckte, aber dogmatisch an der Phlogiston-Theorie festhielt. Diese besagt, dass alle brennbaren Stoffe eine geruch-, farb- und masselose Substanz, das Phlogiston, enthalten, die beim Verbrennen entweicht. Priestley erkannte dadurch nicht die wahre Bedeutung seiner Entdeckung. Der dritte Kandidat ist der französische Chemiker und Oberste Steuereintreiber Antoine Laurent de Lavoisier (1743–1794), der als erster entdeckte, dass Sauerstoff bei der Verbrennung eine Rolle spielt. Indem er die Existenz von Phlogiston verwarf, konnte Lavoisier das Gesetz von der Erhaltung der Masse bei chemischen Reaktionen aufstellen.

Die Autoren lassen die Handlung des Stücks geschickt zwischen den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts und der Gegenwart hin- und herspringen. Zuerst scheint die Aufgabe des Komitees leicht zu sein: Lavoisier ist als Vater der modernen ChemieHoffmann und Djerassi bei der Premiere in San Diego erste Wahl. Aber die Handlung wird dichter, als sich herausstellt, dass Lavoisier den Vorteil hatte, viel von der Arbeit seiner Konkurrenten zu wissen. Anläßlich eines Besuchs bei Lavoisier in Paris 1774 berichtete Priestley, wie er "phlogistonfreie Luft" hergestellt hatte. Um diese Zeit schrieb Scheele an Lavoisier, dass er "Feuerluft" entdeckte habe und wie man sie herstellt. Sowohl Priestley als auch Scheele glaubten an Phlogiston, und nur Lavoisier war in der Lage, die wahre Bedeutung des Sauerstoffs bei der Verbrennung zu erkennen. Der Rest ist – wie man so sagt – Geschichte, aber kennen wir wirklich die wahren Begebenheiten? Djerassi und Hoffmann nehmen Lavoisiers moralisches Problem auf und verstärken es: Hat er diejenigen ausreichend gewürdigt, deren Arbeiten er nutzte, um die Phlogiston-Theorie zu widerlegen?

Was ist Sauerstoff? Für naturwissenschaftlich Gebildete ist die Antwort einfach und die einzig erlaubte Nachfrage lautet: "Atomar oder molekular?" Aber für viele hat Sauerstoff eine andere Bedeutung als den lebenswichtigen Bestandteil der Luft. Sie zweifeln? Schauen Sie sich die Web-Site www.oxygen.com an! Unter dieser Adresse finden Sie eine weibliche Sicht der Welt und eines der kühnsten Start-Up-Unternehmen der Unterhaltungsindustrie seit Jahrzehnten. "Oxygen" ist das erste Netzwerk von Frauen für Frauen im Fernsehen und im Internet. Sein Wahlspruch lautet "Ein großartiger Grund mehr, eine Frau zu sein", und seine wichtigste Moderatorin und Verkäuferin ist Oprah Winfrey, vermutlich die bekannteste, einflussreichste und wohlhabendste Persönlichkeit des Fernsehens. Djerassis und Hoffmanns "Oxygen" spielt auf diesen Zusammenhang an. Im gesamten Stück spielen die Aussagen der Frauen eine wichtigere Rolle als die der Männer.

Den Vorsitz dieses besonderen Nobel-Komitees hat die hervorragendee theoretische Chemikerin Astrid Rosenqvist, die früher einmal ein Verhältnis mit Bengt Hjalmarsson hatte, einem weiteren Mitglied des Komitees. Der Liebesstreit der beiden läuft in den Dialogen mit. Zwei weitere ausgezeichnete Männer vervollständigen das Komitee. Rosenqvist stellt Ulla Zorn vor, die eigentlich nur das Protokoll führen soll. Aber ihr Part geht über diese Aufgabe hinaus: Es stellt sich heraus, dass sie an einer Dissertation zur Rolle der Frauen in der Geschichte der Naturwissenschaften schreibt. Als sich der Konflikt um die Zuerkennung des Preises verschärft, schlägt sie den Männern vor, die Frauen zu befragen, die den Kandidaten am nächsten standen. Die Bühne wird daraufhin in eine dampfende Sauna verwandelt, in der sich eine fiktive Begegnung abspielt zwischen der 35-jährigen Mary Priestley, der 26-jährigen Sara Margaretha Pohl, die Scheeles Haushalt führte und die er auf seinem Totenbett heiratete, und der 19-jährigen Marie-Anne Pierette Pauzie Lavoisier, die seit ihrem 13. Lebensjahr mit Lavoisier verheiratet war. Es wird behauptet, dass diese drei Frauen viel mehr leisteten, als nur ihren Männern bei deren wissenschaftlichen Arbeiten beizustehen. Fing zum Beispiel Madame Lavoisier Scheeles Brief an ihren Mann ab? Angesichts der vielen Komplikationen der Entdeckung des Sauerstoffs stellt sich die Frage, welche Entscheidung das Komitee letztlich trifft. Djerassi und Hoffmann lösen den Konflikt brilliant, aber lesen Sie selbst! (Die deutsche Uraufführung findet am 23. September 2001 im Rahmen der Jahrestagung der GDCh (23.–29.9.2001) in Würzburg statt.)

Als Mitglied und Vorsitzender mehrerer Kommissionen zur Vergabe von Preisen hatte ich das Gefühl, dass einige der nörgeligen Bemerkungen der Mitglieder eher an ein schiefgegangenes Berufungsverfahren als an die ernsthaften Beratungen bei einer Preisvergabe erinnern. Ich fragte Sture Forsén von der Universität Lund, der seit 19 Jahren Mitglied des Nobel-Komitees ist, was sein Eindruck war. Er stimmte mit mir darin überein, dass das Stück eher eine Karikatur der Sitzungen ist. Es steht den Autoren natürlich zu, ihre künstlerische Freiheit zu nutzen, und das tun sie auch. "Oxygen" sorgt für einen sehr unterhaltsamen Abend für Chemiker und diejenigen, die sich für die Geschichte von Entdeckungen und die Menschen interessieren, die diese vorantreiben.

C. DjerassiCarl Djerassi ist bekannt für seine Arbeiten zur Synthese von oralen Steroid-Kontrazeptiva und für die Entwicklung massenspektrometrischer Techniken. Er hatte schon mehr als 1200 Veröffentlichungen in der Chemie publiziert, bevor er sich der, wie er es nennt, "Science in Fiction" zuwandte. Er ist Autor mehrerer Bücher: "Cantors Dilemma", "Das Bourbaki Gambit", "NO", "Marx, Deceased" und "Menachems Same", sowie des hierauf basierenden Schauspiels "Unbefleckt – Sex im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit". Er hat auch zwei Autobiographien geschrieben: "Die Mutter der Pille" (für Chemiker) und "Von der Pille zum PC" (für Laien). Er erhielt unter anderem 1973 die National Medal of Science der USA und 1992 die höchste Auszeichnung der American Chemical Society, die Priestley-Medaille.

R. HofmannRoald Hoffmann erhielt 1981 den Nobelpreis für Chemie für Theorien über den Ablauf chemischer Reaktionen gemeinsam mit dem inzwischen verstorbenen Kenichi Fukui. Hoffmanns literarisches Werk umfasst zwei Gedichtbände – "The Metamict State" (1987), "Gaps and Verges" (1990) –, sowie "Chemistry Imagined" (1993), ein gemeinsam mit der Künstlerin Vivian Torrence verfasstes Buch über Kunst, Wissenschaft und Literatur, "Sein und Schein" (1995) über Dualitäten in der Chemie sowie "Old Wine, New Flasks: Reflections on Science and Jewish Tradition" (1997) über die Verflechtungen von Religion und Wissenschaft. Er erhielt 1983 die National Medal of Science der USA und 1990 die Priestley-Medaille der American Chemical Society.

Naturwissenschaft als Thema für das Theater ist eine kommende, aufregend neue Form der Kunst. Das sieht man auch an Stücken wie Tom Stoppards "Arcadia", in dem es um das 13-jährige Mathematik-Genie Thomasina Coverly geht, die ihre Lehrer mit der Frage verzweifeln lässt, ob Gott ein Anhänger von Newton ist, und Michael Frayns "Kopenhagen", welches die Unklarheiten um das Treffen zwischen den Physikern Niels Bohr und Werner Heisenberg im von Deutschen besetzten Kopenhagen im Jahre 1941 reflektiert.

Wir schulden Carl Djerassi und Roald Hoffmann Dank dafür, dass sie der Welt zeigen, dass auch Chemie Theater sein kann. Das Premierenpublikum – fast ein "Who is who" der Chemie – hat sich prächtig amüsiert. Ob das Stück auch bei einem fachlich weniger gebildeten Publikum ankommt, bleibt abzuwarten.